WOZZECK
Oper.
Syntetische Fassung herausgegeben von null www.operalib.eu.
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Text und Musik Alban BERG.
Uraufführung: 14.Dezember 1925, Berlin.
Personen:
WOZZECK |
Bariton |
TAMBOURMAJOR |
Tenor |
ANDRES |
Tenor |
HAUPTMANN |
Tenor |
DOKTOR |
Bass |
ERSTER HANDWERKSBURSCHE |
Bass |
ZWETER HANDWERKSBURSCHE |
Bariton |
NARR |
Tenor |
MARIE |
Sopran |
MARGRET |
Alt |
MARIENS KNABE |
Sopran |
EIN SOLDAT |
Bariton |
Soldaten, Burschen, Mägde, Dirnen, Kinder.
Anfang des 19. Jahrhunderts in einer kleinen Garnisonsstadt.
Zimmer des Hauptmanns. Frühmorgens.
Hauptmann auf einem Stuhl vor einem Spiegel.
Wozzeck rasiert den Hauptman.
HAUPTMANN
Langsam, Wozzeck, langsam! Eins nach dem Andern!
(unwillig)
Er macht mir ganz schwindlich.
(bedeckt Stirn und Augen mit der Hand. Wozzeck unterbricht seine Arbeit. Hauptmann wieder beruhigt.)
Was soll ich denn mit den zehn Minuten anfangen,
die Er heut' zu früh fertig wird?
(energischer)
Wozzeck, bedenk' Er.
Er hat noch seine schönen dreissig Jahr' zu leben!
Dreissig Jahre: macht dreihundert und sechzig Monate
und erst wieviel Tage, Stunden, Minuten!
Was will Er denn mit der ungeheuren Zeit all' anfangen?
(wieder streng)
Teil' Er sich ein, Wozzeck!
WOZZECK
HAUPTMANN
(geheimnisvoll)
Es wird mir ganz angst um die Welt,
wenn ich an die Ewigkeit denk'. "Ewig", das ist ewig!
Das sieht Er ein. Nun ist es aber wieder nicht ewig,
sondern ein Augenblick, ja, ein Augenblick!
Wozzeck, es schaudert mich, wenn ich denke,
dass sich die Welt in einem Tag herumdreht:
drum kann ich auch kein Mühlrad mehr sehn,
oder ich werde melancholisch!
WOZZECK
HAUPTMANN
Wozzeck, Er sieht immer so verhetzt aus!
Ein guter Mensch tut das nicht. Ein guter Mensch,
der sein gutes Gewissen hat, tut alles langsam...
(fast gesprochen; im Takt)
Red' Er doch was, Wozzeck.
Was ist heut für ein Wetter?
WOZZECK
HAUPTMANN
Ich spür's schon, 's ist so was Geschwindes draussen;
so ein Wind macht mir den Effekt, wie eine Maus.
(pfiffig)
Ich glaub', wir haben so was aus Süd-Nord?
WOZZECK
HAUPTMANN
(lacht lärmend)
Süd-Nord!
(lacht noch lärmender)
Oh, Er ist dumm, ganz abscheulich dumm!
(gerührt)
Wozzeck, Er ist ein guter Mensch,
(setzt sich in Positur)
aber...
(wie eine Fanfare)
Er hat keine Moral!
(mit viel Würde)
Moral: das ist, wenn man moralisch ist!
Versteht Er? Es ist ein gutes Wort.
(mit Pathos)
Er hat ein Kind ohne den Segen der Kirche...
WOZZECK
HAUPTMANN
...wie unser hochwürdiger Herr Garnisonsprediger sagt:
"Ohne den Segen der Kirche" - das Wort ist nicht von mir.
WOZZECK
HAUPTMANN
(wütend aufspringend)
Was sagt Er da?! Was ist das für eine kuriose Antwort?
(mit det Stimme überschnappend)
Er macht mich ganz konfus!
Wenn ich sage: "Er", so mein' ich "Ihn", "Ihn"...
WOZZECK
HAUPTMANN
(etwas fassungslos)
Schon gut, schon gut!
(beschwichtigend)
Ich weiss: Er ist ein guter Mensch,
(übertrieben)
ein guter Mensch.
(etwas gefasster)
Aber Er denkt zu viel, das zehrt.
Er sieht immer so verhetzt aus.
(besorgt)
Der Diskurs hat mich angegriffen.
Geh' Er jetzt, und renn' Er nicht so!
Geh' Er langsam die Strasse hinunter,
(Wozzeck will sich rasch entfernen)
genau in der Mitte, und nochmals,
geh' Er langsam, hübsch langsam!
(Wozzeck ab)
Orchester-Nachspiel.
Freies Feld, die Stadt in der Ferne. Spätnachmittag.
Wozzeck und Andres schneiden Stöcke im Gebüsch.
WOZZECK
ANDRES
(weiter arbeitend; gesprochen)
Ach was!
(singt vor sich hin)
Das ist die schöne Jägerei,
Schiessen steht Jedem frei!
Da möcht ich Jäger sein,
Da möcht ich hin.
WOZZECK
ANDRES
Es wird finster, das macht Dir angst.
Ei was!
(hört mit der Arbeit auf, stellt sich in Positur und singt)
Läuft dort ein Has vorbei,
Fragt mich, ob ich Jäger sei?
Jäger bin ich auch schon gewesen,
Schiessen kann ich aber nit!
(Wozzeck unterbricht seine Arbeit.)
WOZZECK
Zusammen
ANDRES
Sassen dort zwei Hasen,
Frassen ab das grüne Gras.
(unterbricht den Gesang)
WOZZECK
(Beide lauschen angestrengt. Dann Andres selbst etwas beunruhigt; wie um Wozzeck und sich zu beruhigen.)
ANDRES
Sing lieber mit!
(ausgelassen gesungen)
Frassen ab das grüne Gras
Bis...
(unterbricht den Gesang)
WOZZECK
Zusammen
ANDRES
...auf den Rasen...
WOZZECK
WOZZECK
ANDRES
(hält Wozzeck zurück)
He, bist Du toll?
WOZZECK
ANDRES
Was?
(Die Sonne ist im Begriff unterzugehen. Der letzte scharfe Strahl taucht den Horizont in das grellste Sonnenlicht, dem die wie tiefste Dunkelheit wirkende Dämmerung folgt.)
WOZZECK
ANDRES
(mit geheuchelter Gleichgültigkeit)
Die Sonn' ist unter, drinnen trommeln sie.
(Packt die geschnittenen Stöcke zusammen.)
WOZZECK
ANDRES
Nacht! Wir müssen heim!
(Beide gehen langsam ab.)
Orchester-Nachspiel und beginnende Militärmusik hinter der Szene.
Mariens Stube. Abends. Die Militärmusik nähert sich.
Marie mit ihrem Kinde am Arm beim Fenster.
MARIE
Tschin Bum, Tschin Bum, Bum, Bum, Bum!
Hörst Bub? Da kommen sie!
Die Militärmusik, mit dem Tambourmajor an der Spitze, gelangt in die Strasse vor Mariens Fenster.
Margret auf der Strasse, sieht zum Fenster herein und spricht mit Marie.
MARGRET
Was ein Mann! Wie ein Baum!
MARIE
(spricht zum Fenster hinaus)
Er steht apf seinen Füssen wie ein Löw'.
(Der Tambourmajor grüsst herein. Marie winkt freundlich hinaus.)
MARGRET
Ei was freundliche Augen, Frau Nachbarin!
So was is man an ihr nit gewohnt!
MARIE
(singt vor sich hin)
Soldaten, Soldaten
sind schöne Burschen!
MARGRET
Ihre Augen glänzen ja!
MARIE
Und wenn! Was geht Sie's an?
Trag' Sie ihre Augen zum Juden und lass Sie sie putzen:
vielleicht glänzen sie auch noch,
dass man sie für zwei Knöpf' verkaufen könnt'.
MARGRET
Was Sie, Sie "Frau Jungfer"! Ich bin eine honette Person,
aber Sie, das weiss Jeder, Sie guckt sieben Paar lederne
Hosen durch!
MARIE
(schreit sie an)
Luder!
(schlägt das Fenster zu. Die Militärmusik ist plötzlich, als Folge des zugeschlagenen Fensters, unhörbar geworden. Marie ist allein mit dem Kind.)
MARIE
Komm, mein Bub!
Was die Leute wollen!
Bist nur ein arm' Hurenkind
und machst Deiner Mutter doch so viel Freud'
mit Deinem unehrlichen Gesicht!
(wiegt das Kind)
Eia popeia...
Mädel, was fangst Du jetzt an?
Hast ein klein Kind und kein Mann!
Ei, was frag' ich darnach,
Sing' ich die ganze Nacht:
Eia popeia, mein süsser Bu',
Gibt mir kein Mensch nix dazu!
Hansel, spann' Deine sechs Schimmel an,
Gib sie zu fressen auf's neu,
Kein Haber fresse sie,
Kein Wasser saufe sie,
Lauter kühle Wein muss es sein!
(Das Kind ist eingeschlafen.)
Lauter kühle Wein muss es sein!
Lauter kühle Wein muss es sein!
(Marie in Gedanken versunken.)
(Es klopft am Fenster. Marie fährt zusammen.)
MARIE
Wer da?
(aufspringend)
Bist Du's, Franz?
(das Fenster öffnend)
Komm herein!
WOZZECK
MARIE
Hast Stecken geschnitten für den Major?
WOZZECK
MARIE
Was hast Du, Franz? Du siehst so verstört?
WOZZECK
MARIE
Mann!
WOZZECK
MARIE
Franz!
WOZZECK
MARIE
(ganz ratlos, versucht ihn zu beruhigen)
Franz! Franz!
(hält ihm den Buben hin)
Dein Bub!
WOZZECK
(hastig ab)
MARIE
(geht vom Fenster weg, allein mit dem Kind, betrachtet es schmerzlich)
Der Mann! So vergeistert! Er hat sein Kind nicht angesehn!
Er schnappt noch über mit den Gedanken!
Was bist so still, Bub. Fürch'st Dich?
Es wird so dunkel, man meint, man wird blind;
sonst scheint doch die Lantern' herein!
(ausbrechend)
Ach! Wir arme Leut.
Ich halt's nit aus... Es schauert mich!
(stürzt zur Tür)
Vorhang rascht zu.
Orchester Überleitung.
Studierstube des Doktors. Sonniger Nachmittag.
Wozzeck tritt ein. Der Doktor eilt hastig Wozzeck entgegen.
DOKTOR
Was erleb' ich, Wozzeck? Ein Mann ein Wort? Ei, ei, ei!
WOZZECK
DOKTOR
Ich hab's geseh'n, Wozzeck, Er hat wieder gehustet,
auf der Strasse gehustet, gebellt wie ein Hund!
Geh' ich Ihm dafür alle Tage drei Groschen?
Wozzeck! Das ist schlecht!
Die Welt ist schlecht, sehr schlecht! Oh!
WOZZECK
DOKTOR
(auffahrend)
Die Natur kommt! Die Natur kommt!
Aberglaube, abscheulicher Aberglaube!
Hab' ich nicht nachgewiesen, dass das Zwerchfell
dem Willen unterworfen ist?
(wieder auffahrend)
Die Natur, Wozzeck! Der Mensch ist frei!
In dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit!
(kopfschüttelnd, mehr zu sich)
Husten müssen!
(wieder zu Wozzeck)
Hat Er schon seine Bohnen gegessen, Wozzeck?
Nichts als Bohnen, nichts als Hülsenfrüchte! Merk' Er sich's!
Die nächste Woche fangen wir dann mit Schöpsenfleisch an.
Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft:
(an den Fingern aufzählend)
Eiweiss, Fette, Kohlenhydrate;
und zwar: Oxyaldehydanhydride...
(plötzlich empört)
Aber, Er hat wieder gehustet...
(tritt auf Wozzeck zu; sich plötzlich beherrschend)
Nein! Ich ärgere mich nicht, ärgern ist ungesund,
ist unwissenschaftlich!
Ich bin ganz ruhig, / mein Puls hat seine gewöhnlichen Sechzig,
behüt, wer wird sich über einen Menschen ärgern!
Wenn es noch ein Molch wäre, der einem unpässlich wird.
(wieder heftig)
Aber, aber, Wozzeck, Er hätte doch nicht husten sollen!
WOZZECK
DOKTOR
Wozzeck.
Zusammen
WOZZECK
DOKTOR
Er philosophiert wieder! Was? Wenn die Natur...
WOZZECK
Zusammen
WOZZECK
DOKTOR
Kerl, Er tastet mit seinen Füssen herum,
wie mit Spinnenfüssen.
WOZZECK
DOKTOR
Wozzeck, Er hat eine Aberratio...
WOZZECK
DOKTOR
Wozzeck, Er kommt ins Narrenhaus.
Er hat eine schöne fixe Idee, eine köstliche Aberratio
mentalis partialis, zweite Spezies!
Sehr schön ausgebildet!
Wozzeck, Er kriegt noch mehr Zulage!
Tut Er noch Alles wie sonst?: Rasiert seinen Hauptmann?
Fängt fleissig Molche?
Isst seine Bohnen?
WOZZECK
DOKTOR
Er ist ein intressanter Fall, halt' Er sich nur brav!
Wozzeck, Er kriegt noch einen Groschen mehr Zulage.
Was muss Er aber tun?
WOZZECK
DOKTOR
Was muss Er tun?
WOZZECK
DOKTOR
Bohnen essen, dann Schöpsenfleisch essen, nicht husten,
seinen Hauptmann rasieren, dazwischen die fixe Idee pflegen!
(immer mehr in Ekstase geratend)
Oh! meine Theorie! Oh mein Ruhm!
Ich werde unsterblich! Unsterblich! Unsterblich!
(in höchster Verzückung)
Unsterblich!
(plötzlich wieder ganz sachlich, an Wozzeck herantretend)
Wozzeck, zeig' Er mir jetzt die Zunge!
(Wozzeck gehorcht.)
Orchester-Einleitung.
Strasse vor Mariens Tür. Abenddämmerung.
MARIE
(steht bewundernd vor dem Tambourmajor)
Geh einmal vor Dich hin.
(Tambourmajor in Positur, macht einige Marschschritte)
Über die Brust wie ein Stier und ein Bart wie ein Löwe.
So ist Keiner! Ich bin stolz vor allen Weibern!
TAMBOURMAJOR
Wenn ich erst am Sonntag den grossen Federbusch hab', und
die weissen Handschuh! Donnerwetter! Der Prinz sagt immer:
"Mensch! Er ist ein Kerl!"
MARIE
(spöttisch)
Ach was!
(tritt vor ihn hin. Bewundernd)
Mann!
TAMBOURMAJOR
Und Du bist auch ein Weibsbild! Sapperment! Wir wollen
eine Zucht von Tambourmajors anlegen. Was?!
(er umfasst sie)
MARIE
Lass mich!
(will sich losreissen. Sie ringen miteinander)
TAMBOURMAJOR
Wildes Tier!
MARIE
(reisst sich los)
Rühr mich nicht an!
TAMBOURMAJOR
(richtet sich in ganzer Grösse auf und tritt nahe an Marie heran; eindringlich)
Sieht Dir der Teufel aus den Augen?!
(er umfasst sie wieder, diesmal mit fast drohender Entschlossenheit)
MARIE
Meinetwegen, es ist Alles eins!
(Sie stürzt in seine Arme und verschwindet mit ihm in der offenen Haustür.)
Mariens Stube. Vormittag, Sonnenschein.
Marie, ihr Kind auf dem Schoss, hält ein Stückchen Spiegel in der Hand und besieht sich darin.
MARIE
Was die Steine glänzen?
Was sind's für welche?
Was hat er gesagt?
(überlegt; zu ihrem Buben, der sich bewegt hat)
Schlaf, Bub! Drück die Augen zu...
(Das Kind versteckt die Augen hinter den Händen.)
Fest. Noch fester!
Bleib so!
(Das Kind bewegt sich wieder.)
Still, oder er holt Dich!
(mit verstellt unheimchen, aber gleichzeitig mit keckem, fast ausgelassenem Ausdruck)
Mädel, mach's Lädel zu!
's kommt ein Zigeunerbu',
Führt Dich an seiner Hand
Fort ins Zigeunerland.
(Das Kind hat, in höchster Angst, seinen Kopf in den Falten des Kleides seiner Mutter verborgen, wo es ganz still hält. Marie besieht sich wieder im Spiegel.)
's ist gewiss Gold.
Unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt
und ein Stückchen Spiegel.
(ausbrechend)
Und doch hab' ich einen so roten Mund,
als die grossen Madamen mit ihren Spiegeln von oben bis unten
und ihren schönen Herrn, die ihnen die Hände küssen;
aber ich bin nur ein armes Weibsbild!
(Das Kind richtet sich auf; Marie ärgerlich.)
Still! Bub! Die Augen zu!
(blinkt mit dem Spiegel)
Das Schlafengelchen; wie's an der Wand läuft.
(Das Kind gehorcht nicht; Marie fast zornig.)
Mach die Augen zu!
Oder es sieht Dir hinein, dass Du blind wirst...
Wozzeck tritt herein, hinter Marie. Marie, die regungslos, wie das eingeschüchterte Kind, die Wirkung ihres Spiels mit dem Spiegel abwartet, sieht Wozzeck anfangs nicht. Plötzlich fährt sie auf, mit den Händen nach den Ohren.
WOZZECK
MARIE
Nix!
Zusammen
WOZZECK
MARIE
Ein Ohrringlein...
MARIE
...hab's gefunden...
WOZZECK
MARIE
Bin ich ein schlecht Mensch?
WOZZECK
MARIE
Gott vergelts, Franz.
WOZZECK
MARIE
(allein)
Ich bin doch ein schlecht Mensch.
Ich könnt mich erstechen.
Ach! was Welt!
Geht doch Alles zum Teufel:
Mann und Weib und Kind!
Orcherster-Nachspiel.
Strasse in der Stadt. Tag.
Der Hauptmann und der Doktor begegnen sich.
HAUPTMANN
(schon aus der Entfernung)
Wohin so eilig, geehrtester Herr Sargnagel?
DOKTOR
(sehr pressiert)
Wohin so langsam, geehrtester Herr Exercizengel?
HAUPTMANN
Nehmen Sie sich Zeit
(will den Doktor, der rasch weitergeht, einholen)
DOKTOR
Pressiert!
HAUPTMANN
Laufen Sie nicht so! Uff!
(schöpft tief und geräuschvoll Atem)
Laufen Sie nicht! Ein guter Mensch geht nicht so schnell.
Ein guter Mensch...
DOKTOR
Pressiert, pressiert!
HAUPTMANN
Ein guter... Sie hetzen sich ja hinter dem Tod d'rein!
DOKTOR
(im Gehen etwas einhaltend, so dass ihn der Hauptmann einholt, ärgerlich)
Ich kann meine Zeit nicht stehlen.
HAUPTMANN
Ein guter Mensch...
DOKTOR
Pressiert, pressiert, pressiert!
HAUPTMANN
(erwischt den Doktor einigemale am Rock)
Aber rennen Sie nicht so, Herr Sargnagel! Sie schleifen
ja Ihre Beine auf dem Pflaster ab.
(hält den Doktor endlich fest; zwischen den einzelnen Worten tief keuchend)
Erlauben Sie, dass ich ein Menschenleben
(sich langsam beruhigend
rette.
(tiefer Atemzug)
DOKTOR
(langsam weitergehend, entschliesst sich, dem Hauptmann Gehör zu schenken)
Frau, in vier Wochen tot!
(bleibt wieder stehen, geheimnisvoll)
Cancer uteri. Habe schon zwanzig solche Patienten gehabt
(will weitergehen)
In vier Wochen...
HAUPTMANN
Doktor, erschrecken Sie mich nicht! Es sind schon Leute
am Schreck gestorben, am puren hellen Schreck!
DOKTOR
In vier Wochen! Gibt ein intressantes Präparat.
HAUPTMANN
Oh, oh, oh!
DOKTOR
(ganz stehenbleibend, kaltblütig den Hauptmann prüfend)
Und Sie selbst! Hm! Aufgedunsen, fett, dicker Hals,
apoplektische Konstitution! Ja, Herr Hauptmann,
(geheimnisvoll)
Sie können eine Apoplexia cerebri kriegen; Sie können sie
aber vielleicht nur auf der einen Seite bekommen. Ja! Sie
können nur auf der einen Seite gelähmt werden,
(wieder sehr geheimnisvoll)
oder im besten Fall nur unten!
HAUPTMANN
(stöhnend)
Um Gottes...
DOKTOR
(überströmend, begeistert)
Ja! Das sind so ungefähr
Ihre Aussichten auf die nächsten vier Wochen!
Übrigens kann ich Sie versichern,
dass Sie einen von den intressanten Fällen abgeben werden,
und wenn Gott will, dass ihre Zunge zum Teil gelähmt wird,
so machen wir die unsterblichsten Experimente.
(will mit rascher Wendung enteilen, Hauptmann langt schnell nach dem Doktor und hält ihn fest)
HAUPTMANN
Halt, Doktor! Ich lasse Sie nicht! Sargnagel! Totenfreund!
In vier Wochen?
(schon ganz atemlos)
Es sind schon Leute am puren Schreck... Doktor!
(hustet vor Aufregung und Anstrengung. Doktor klopft dem Hauptmann auf den Rücken, um ihm das Husten zu erleichtern, Hauptmann gerührt)
Ich sehe schon die Leute mit den Sacktüchern vor den Augen.
(immer gerührter)
Aber sie werden sagen: "Er war ein guter Mensch,
ein guter Mensch."
Wozzeck geht rasch verbei, salutiert. Der Doktor, der peinlich berührt ist und abzulenken sucht, sieht Wozzeck.
DOKTOR
He, Wozzeck!
(Wozzeck bleibt stehen)
Was hetzt Er sich so an uns vorbei?
(Wozzeck salutiert und will wieder gehen)
Bleib Er doch, Wozzeck!
(Wozzeck bleibt schliesslich stehen und kommt langsam zurück.)
HAUPTMANN
(wieder gefasst, zu Wozzeck)
Er läuft ja wie ein offenes Rasiermesser durch die Welt,
man schneidet sich an Ihm!
(betrachtet Wozzeck näher, der stumm und ernst dasteht. Wendet sich daher - etwas beschämt - zum Doktor. Mit Anspielung auf dessen Vollbart)
Er läuft, als hätt' er die Vollbärte aller Universitäten
zu rasieren, und würde gehängt,
so lang noch ein letztes Haar...
Ja richtig,
(pfeift)
die langen Bärte... was wollte ich doch sagen?
(nachsinnend, hie und da in Gedanken pfeifend)
die langen Bärte...
DOKTOR
(zitierend)
"Ein langer Bart unter dem Kinn"... hm!...
Zusammen
DOKTOR
Schon Plinius spricht davon.
(Hauptmann kommt durch die Anspielung des Doktors darauf und schlägt sich auf die Stirn)
Man muss ihn den Soldaten abgewöhnen...
HAUPTMANN
(sehr bedeutsam)
Ha! Ich hab's...
HAUPTMANN
...die langen Bärte! Was ist's, Wozzeck?
(Doktor hört von hier an belustigt dem Hauptmann zu und summt hie und da sein Thema, indern er mit seinem Spazierstock, gleich einem Tambourstab, den Takt dazu markiert)
HAUPTMANN
Hat Er nicht ein Haar aus einem Bart in seiner Schüssel
gefunden? Haha! Er versteht mich doch? Ein Haar von
einem Menschen, vom Bart eines Sappeurs, oder eines
Unteroffiziers, oder eines Tambourmajors.
DOKTOR
He, Wozzeck? Aber Er hat doch ein braves Weib?
WOZZECK
HAUPTMANN
Was der Kerl für ein Gesicht macht! Nun!
Wenn auch nicht grad in der Suppe, aber wenn Er sich eilt
und um die Ecke läuft, so kann Er vielleicht noch
auf einem Paar Lippen eins finden! Ein Haar nämlich!
Übrigens, ein Paar Lippen! Oh, ich habe auch einmal
die Liebe gefühlt!
(in ganz verändertem Ton)
Aber, Kerl, Er ist ja kreideweiss!
WOZZECK
HAUPTMANN
(auffahrend)
Spass? Ich? Dass Dich der...
Zusammen
WOZZECK
HAUPTMANN
Spass! Kerl?
Kerl, will Er sich erschiessen?
Er sticht mich ja mit seinen Augen!
Ich mein's gut mit Ihm,
weil Er ein guter Mensch ist, Wozzeck,
(gerührt)
ein guter Mensch!
DOKTOR
Den Puls, Wozzeck!
(ergreift Wozzecks Puls)
Klein... hart... arhythmisch.
(betrachtet Wozzeck prüfend)
Gesichtsmuskein starr, gespannt,
Augen stier.
WOZZECK
HAUPTMANN
(blickt Wozzeck betreten nach)
Wie der Kerl läuft und sein Schatten hinterdrein!
DOKTOR
Er ist ein Phänomen, dieser Wozzeck!
HAUPTMANN
Mir wird ganz schwindlich vor dem Menschen!
Und wie verzweifelt! Das hab' ich nicht gern!
(Der Doktor an, der einen neuen Gefühlsausbruch befürchtet und sich bei diesem Wort des Hauptmanns, als besänne er sich der Eile zu Anfang der Szene, in Bewegung setzt. Hauptmann schon in Abgehen.)
Ein guter Mensch ist dankbar gegen Gott;
ein guter Mensch hat auch keine Courage!
(mit Beziehung auf Wozzeck)
Nur ein Hundsfott hat Courage!
(schliesst sich dem Doktor an)
Nur ein Hundsfott!...
HAUPTMANN
(hinter der Szene)
Hundsfott...
Der Vorhang fällt.
Überleitende Takte und Kammerorchester-Einleitung.
Gasse vor Mariens Wohnungstür. Trüber Tag.
Marie steht vor ihrer Tür.
Wozzeck kommt auf dem Gehsteig rasch auf sie zu.
MARIE
Guten Tag, Franz.
WOZZECK
MARIE
Was hast, Franz?
WOZZECK
MARIE
Du bist hirnwütig, Franz, ich fürcht' mich...
WOZZECK
MARIE
Ich kann den Leuten die Gasse nicht verbieten.
WOZZECK
MARIE
Dieweil der Tag lang und die Welt alt ist, können viele
Menschen an einem Platze stehn, einer nach dem andern.
WOZZECK
MARIE
Man kann viel sehn, wenn man zwei Augen hat und wenn man
nicht blind ist und wenn die Sonne scheint.
WOZZECK
MARIE
Und wenn auch!
WOZZECK
MARIE
Rühr' mich nicht an!
(Wozzeck lässt langsam die erhobene Hand sinken)
Lieber ein Messer in den Leib, als eine Hand auf mich.
Mein Vater hat's nicht gewagt, wie ich zehn Jahr alt war...
(ins Haus ab)
WOZZECK
Leere Bühne.
Der Vorhang langsam zu.
Überleitende Takte und Orchester-Vorspiel (Ländler).
Wirtshausgarten. Spät abends.
Die Wirtshausmusik auf der Bühne beendet soeben den Ländlek des Orchester-Vorspiels.
Burschen, Soldaten und Mägde auf dem Tanzboden, teils tanzend, teil zusehend.
ERSTER HANDWERKSBURSCHE
Ich hab' ein Hemdlein an, das ist nicht mein.
ZWETER HANDWERKSBURSCHE
ERSTER HANDWERKSBURSCHE
Und meine Seele stinkt nach Branntewein.
(Die Burschen, Soldaten und Mägde verlassen gemächlich den Tanzboden und sammeln sich in Gruppen. Eine Gruppe um die zwei betrunkenen Handwerksburschen.)
ERSTER HANDWERKSBURSCHE
Meine Seele, meine unsterbliche Seele,
stinket nach Branntewein!
Sie stinket, und ich weiss nicht, warum?
Warum ist die Welt so traurig?
Selbst das Geld geht in Verwesung über!
ZWETER HANDWERKSBURSCHE
Zusammen
ERSTER HANDWERKSBURSCHE
Meine Seele, meine unsterbliche Seele stinket!
ZWETER HANDWERKSBURSCHE
ERSTER HANDWERKSBURSCHE
Oh! Das ist traurig, traurig, traurig, trau...
(schläft ein)
Burschen, Soldaten und Mägde begeben sich wieder auf den Tanzboden und beginnen zu tanzen. Unter ihnen Marie und der Tambourmajor.
Wozzeck tritt hastig auf, sieht Marie, die mit dem Tarnbourmajor vorbeitanzt.
WOZZECK
MARIE
(im Vorbeitanzen)
Immerzu, immerzu!
WOZZECK
MARIE
Immer zu!
TAMBOURMAJOR
Immer zu!
WOZZECK
BURSCHEN, SOLDATEN
Ein Jäger aus der Pfalz
Ritt einst durch einen grünen Wald!
Halli, Hallo, Halli, Hallo!
Ja lustig ist die Jägerei. Halli!
Allhie auf grüner
Haid! Halli, Hallo! Halli, Hallo!
(Andres die Gitarre ergreifend, spielt sich als Dirigent des Chores auf und gibt ein Ritardando, so dass er in den verklingenden Akkord des Chores einsetzen kann.)
ANDRES
(leiernd)
O Tochter, liebe Tochter,
Was hast Du gedenkt,
Dass Du Dich an die Kutscher
Und die Fuhrknecht hast gehängt?
Zusammen
BURSCHEN, SOLDATEN
Ja lustig ist die Jägerei,
Allhie auf grüner Haid!
Halli, Hallo! Halli, Hallo!
ANDRES
Hallo!
(Andres gibt die Gitarre dem Spieler von der Wirtshausmusik zurück und wendet sich zum Wozzeck)
WOZZECK
ANDRES
Elf Uhr!
WOZZECK
ANDRES
Was sitzest Du da vor der Tür?
WOZZECK
ANDRES
Du sitzest hart.
WOZZECK
ANDRES
Bist besoffen?
WOZZECK
(Andres, gelangweilt und mit den Gedanken schon mehr beim Tanz, wendet sich pfeifend von Wozzeck ab. Der erste Handwerksbursche, der inzwischen aufgewacht ist, steigt auf einen Tisch und beginnt, von der Wirtshausmusik auf der Bühne melodramatisch begleitet, zu predigen.)
ERSTER HANDWERKSBURSCHE
Jedoch, wenn ein Wanderer,
der gelehnt steht an dem Strom der Zeit,
oder aber sich die göttliche Weisheit vergegenwärtigt
und fraget: Warum ist der Mensch?
(mit Pathos)
Aber wahrlich, geliebte Zuhörer, ich sage Euch:
(verzückt)
Es ist gut so!
Denn von was hätten der Landmann,
der Fassbinder, der Schneider, der Arzt leben sollen,
wenn Gott den Menschen nicht geschaffen hätte?
Von was hätte der Schneider leben sollen,
wenn Er nicht dem Menschen die Empfindung
der Schamhaftigkeit eingepflanzt hätte?
Von was der Soldat und der Wirt,
wenn Er ihn nicht mit dem Bedürfnis des Totschiessens
und der Feuchtigkeit ausgerüstet hätte?
Darum, Geliebteste, zweifelt nicht;
denn es ist Alles lieblich und fein...
Aber alles Irdische ist eitel;
selbst das Geld geht in Verwesung über...
Und meine Seele stinkt nach Branntewein.
(Allgemeines Gejohle! Der Redner wird umringt und von einem Teil der Burschen abgeführt. Die Übrigen begeben sich singend teils zum Tanzboden, teils zu den Tischen im Hintergrund.)
BURSCHEN, SOLDATEN
Ja lustig ist die Jägerei.
ANDRES
O Tochter, liebe Tochter!
Der Narr taucht plötzlich auf und nähert sich Wozzeck, der, teilnahmslos an den Vorgängen, auf der Bank vorn gesessen hat. Der Narr drängt sich an Wozzeck heran. Die Instrumentalisten der Wirtshausmusik beginnen ihre Instrumente zu stimmen.
NARR
Lustig, lustig...
(Wozzeck beachtet den Narren anfangs nicht.)
...aber es riecht...
WOZZECK
NARR
Ich riech, ich riech Blut!
WOZZECK
(Die Burschen, Mägde und Soldaten, unter ihnen Marie und der Tambourrnajor, beginnen wieder zu tanzen.)
WOZZECK
Orchester-Nachspiel.
Wachstube in der Kaserne. Nachts.
Wortloster Chor der schlafenden Soldaten, anfangs bei geschlossenem Vorhang.
Andres liegt mit Wozzeck auf einer Pritsche und schläft.
WOZZECK
(Bei den Worten Wozzecks werden die schlafenden Soldaten unruhig, ohne aber aufzuwachen.)
ANDRES
Lass sie tanzen!
WOZZECK
ANDRES
Schlaf, Narr!
WOZZECK
(Wortloser Gesang der schlafenden Soldaten.)
Tambourmajor poltert, stark angeheitert, herein.
TAMBOURMAJOR
Ich bin ein Mann! Ich hab' ein Weibsbild,
ich sag' Ihm, ein Weibsbild!
Zur Zucht von Tarnbourmajors!
Ein Busen und Schenkel! und alles fest.
Die Augen wie glühende Kohlen.
Kurzum ein Weibsbild, ich sag' Ihm...
ANDRES
He! Wer ist es denn?
TAMBOURMAJOR
Frag' Er den Wozzeck da!
(zieht eine Schnapsflasche aus der Tasche, trinkt daraus und hält sie dem Wozzeck hin)
Da, Kerl, sauf'! Ich wollt', die Welt wär Schnaps,
Schnaps, der Mann muss saufen!
(trinkt wieder)
Sauf', Kerl, sauf'!
(Wozzeck blickt weg und pfeift.)
(schreiend)
Kerl, soll ich Dir die Zung' aus dem Hals zieh'n
und sie Dir um den Leib wickeln?
(Sie ringen miteinander. Wozzeck unterliegt. Der Tambourmajor würgt den am Boden liegenden Wozzeck.)
Soll ich Dir noch so viel Atem lassen, als ein Altweiberfurz?
(über Wozzeck gebeugt)
Soll ich...
(Wozzeck sinkt erschöpft um. Der Tambourmajor lässt von Wozzeck ab, richtet sich auf und zieht die Schnapsflasche aus der Tasche.)
Jetzt soll der Kerl pfeifen!
(trinkt wieder)
Dunkelblau soll er sich pfeifen!
(pfeift dieselbe Melodie wie früher Wozzeck, triumphierend)
Was bin ich für ein Mann!
(Wendet sich zum Fortgehen und poltert zur Tür hinaus. Wozzeck hat sich indessen langsam erhoben und auf seine Pritsche gesetzt.)
EIN SOLDAT
ANDRES
Er blut'...
(legt sich ebenfalls um und schläft ein)
WOZZECK
(Die anderen Soldaten, die sich währened des Ringkampfes etwas aufgerichtet hatten, haben sich nach dem Abgang des Tambourmajors niedergelegt und schlafen nunmehr alle wieder.)
Mariens Stube. Es ist Nacht. Kerzenlicht.
Marie sitzt am Tisch, blättert in der Bibel; das Kind in der Nähe.
MARIE
(liest in der Bibel)
"Und ist kein Betrug in seinem Munde erfunden worden..."
Herr-Gott! Herr-Gott! Sieh' mich nicht an!
(blättert weiter)
"Aber die Pharisäer brachten ein Weib zu ihm,
so im Ehebruch lebte." Jesus aber sprach:
"So verdamme ich dich auch nicht, geh' hin,
und sündige hinfort nicht mehr."
Herr-Gott!
(schlägt die Hände vors Gesicht. Das Kind drängt sich an Marie)
Der Bub' gibt mir einen Stich in's Herz. Fort!
(stösst das Kind von sich)
Das brüst' sich in der Sonne!
(plötzlich milder)
Nein, komm, komm her!
(zieht das Kind an sich)
Komm zu mir!
(gesprochen)
"Es war einmal ein armes Kind
und hatt' keinen Vater und keine Mutter...
war Alles tot und war Niemand auf der Welt,
und es hat gehungert und geweint Tag und Nacht.
Und weil es Niemand mehr hatt' auf der Welt..."
Der Franz ist nit kommen, gestern nit, heut' nit...
(blättert hastig in der Bibel)
Wie steht es geschrieben von der Magdalena?...
"Und kniete hin zu seinen Füssen
und weinte und küsste seine Füsse
und netzte sie mit Tränen und salbte sie mit Salben".
(schlägt sich auf die Brust)
Heiland! Ich möchte Dir die Füsse salben!
Heiland! Du hast Dich ihrer erbarmt,
erbarme Dich auch meiner!
Der Vorhang fällt langsam.
Orchester-Nachspiel.
Waldweg am Teich. Es dunkelt.
Marie kommt mit Wozzeck von rechts.
MARIE
Dort links geht's in die Stadt.
's ist noch weit. Komm schneller!
WOZZECK
MARIE
Aber ich muss fort.
WOZZECK
MARIE
Zu Pfingsten drei Jahre.
WOZZECK
MARIE
(springt auf)
Ich muss fort.
WOZZECK
MARIE
Der Nachttau fällt.
WOZZECK
MARIE
Was sagst Du da?
WOZZECK
(Langes Schweigen. Der Mond geht auf.)
MARIE
Wie der Mond rot aufgeht!
WOZZECK
MARIE
Was zitterst?
(springt auf)
Was willst?
WOZZECK
MARIE
Hilfe!
(sinkt nieder. Wozzeck beugt sich über sie. Marie stirbt.)
WOZZECK
(richtet sich scheu auf und stürzt geräuschlos davon)
Vorhang zu.
Orchester-Uberleitung.
Eine Schenke. Nacht. Schwaches Licht.
Dirnen, unter ihnen Margret, und Burschen tanzen eine wilde Schnellpolka.
Wozzeck sitzt an einem der Tische.
WOZZECK
MARGRET
(vom Klavierspieler auf der Bühne begleitet, singt)
In's Schwabenland, da mag ich nit,
Und lange Kleider trag ich nit,
Denn lange Kleider, spitze Schuh,
Die kommen keiner Dienstmagd zu.
WOZZECK
MARGRET
Aber was hast Du an der Hand?
WOZZECK
MARGRET
Rot! Blut!
WOZZECK
(Es stellen sich Leute um sie.)
MARGRET
Freilich... Blut!
WOZZECK
Zusammen
WOZZECK
MARGRET
Wie kommt's denn zum Ellenbogen?
Puh! Puh!
Da stinkt's nach Menschenblut!
BURSCHEN
Mit der rechten Hand am rechten Arm?
Blut, Blut, Blut, Blut!
DIRNEN
Freilich, da stinkt's nach Menschenblut!
(Wozzeck stürzt hinaus.)
Orchester-Nachspiel.
Waldweg am Teich. Mondnacht wie vorher.
Wozzeck kommt schnell herangewankt. Bleibt suchend stehen.
WOZZECK
(Der Mond bricht blutrot hinter den Wolken hervor. Wozzeck blickt auf.)
Der Doktor tritt auf, der Hauptmann folgt ihm.
HAUPTMANN
Halt!
DOKTOR
(bleibt stehen)
Hören Sie? Dort!
HAUPTMANN
Jesus! Das war ein Ton.
(bleibt ebenfalls stehen)
DOKTOR
(auf den Teich zeigend)
Ja, dort!
HAUPTMANN
Es ist das Wasser im Teich. Das Wasser ruft.
Es ist schon lange Niemand ertrunken.
Kommen Sie, Doktor! Es ist nicht gut zu hören.
(will den Doktor mit sich ziehen)
DOKTOR
(bleibt aber stehen und lauscht)
Das stöhnt als stürbe ein Mensch.
Da ertrinkt jemand!
HAUPTMANN
Unheimlich! Der Mond rot und die Nebel grau.
Hören Sie? jetzt wieder das Ächzen.
DOKTOR
Stiller... jetzt ganz still.
HAUPTMANN
Kommen Sie! Kommen Sie schnell.
(zieht den Doktor mit sich)
Orchester-Uberleitung.
Strasse vor Mariens Tür. Heller Morgen. Sonnenschein.
Kinder spielen und lärmen.
Mariens Knabe auf einem Steckenpferd reitend.
DIE SPIELENDER KINDER
Ringel, Ringel, Rosenkranz,
Ringelreih'n!
Ringel, Ringel, Rosenkranz,
Rin...
Unterbrechen Gesang und Spiel, andere Kinder stürmen herein.
EINS VON IHNEN
Du Käthe!... Die Marie...
ZWEITES KIND
Was is?
ERSTES KIND
Weisst' es nit? Sie sind schon Alle 'naus.
DRITTES KIND
(zu Mariens Knaben)
Du! Dein Mutter ist tot!
MARIENS KNABE
(immer reitend)
Hopp, hopp! Hopp, hopp! Hopp, hopp!
ZWEITES KIND
Wo is sie denn?
ERSTES KIND
Drauss' liegt sie, am Weg, neben dem Teich.
DRITTES
Kommt, anschaun!
(Alle Kinder laufen davon.)
MARIENS KNABE
(reitet)
Hopp, hopp! Hopp, hopp! Hopp, hopp!
(zögert einen Augenblick und reitet dann den anderen Kindern nach)
Leere Bühne.
Vorhang zu.
Einige Schlußtakte des Orchesters.
Ende.
Generazione pagina: 21/10/2017
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Versione H: 3.00.40
(D)