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Wozzeck

WOZZECK

Oper.

Syntetische Fassung herausgegeben von null www.operalib.eu.

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Text und Musik Alban BERG.
Uraufführung: 14.Dezember 1925, Berlin.


Personen:

WOZZECK

Bariton

TAMBOURMAJOR

Tenor

ANDRES

Tenor

HAUPTMANN

Tenor

DOKTOR

Bass

ERSTER HANDWERKSBURSCHE

Bass

ZWETER HANDWERKSBURSCHE

Bariton

NARR

Tenor

MARIE

Sopran

MARGRET

Alt

MARIENS KNABE

Sopran

EIN SOLDAT

Bariton


Soldaten, Burschen, Mägde, Dirnen, Kinder.

Anfang des 19. Jahrhunderts in einer kleinen Garnisonsstadt.

Erster Akt
Erste Szene

Zimmer des Hauptmanns. Frühmorgens.
Hauptmann auf einem Stuhl vor einem Spiegel.
Wozzeck rasiert den Hauptman.

HAUPTMANN

Langsam, Wozzeck, langsam! Eins nach dem Andern!

(unwillig)

Er macht mir ganz schwindlich.

(bedeckt Stirn und Augen mit der Hand. Wozzeck unterbricht seine Arbeit. Hauptmann wieder beruhigt.)

Was soll ich denn mit den zehn Minuten anfangen,

die Er heut' zu früh fertig wird?

(energischer)

Wozzeck, bedenk' Er.

Er hat noch seine schönen dreissig Jahr' zu leben!

Dreissig Jahre: macht dreihundert und sechzig Monate

und erst wieviel Tage, Stunden, Minuten!

Was will Er denn mit der ungeheuren Zeit all' anfangen?

(wieder streng)

Teil' Er sich ein, Wozzeck!

WOZZECK

Jawohl, Herr Hauptmann!

HAUPTMANN

(geheimnisvoll)

Es wird mir ganz angst um die Welt,

wenn ich an die Ewigkeit denk'. "Ewig", das ist ewig!

Das sieht Er ein. Nun ist es aber wieder nicht ewig,

sondern ein Augenblick, ja, ein Augenblick!

Wozzeck, es schaudert mich, wenn ich denke,

dass sich die Welt in einem Tag herumdreht:

drum kann ich auch kein Mühlrad mehr sehn,

oder ich werde melancholisch!

WOZZECK

Jawohl, Herr Hauptmann!

HAUPTMANN

Wozzeck, Er sieht immer so verhetzt aus!

Ein guter Mensch tut das nicht. Ein guter Mensch,

der sein gutes Gewissen hat, tut alles langsam...

(fast gesprochen; im Takt)

Red' Er doch was, Wozzeck.

Was ist heut für ein Wetter?

WOZZECK

Sehr schlimm, Herr Hauptmann! Wind!

HAUPTMANN

Ich spür's schon, 's ist so was Geschwindes draussen;

so ein Wind macht mir den Effekt, wie eine Maus.

(pfiffig)

Ich glaub', wir haben so was aus Süd-Nord?

WOZZECK

Jawohl, Herr Hauptmann!

HAUPTMANN

(lacht lärmend)

Süd-Nord!

(lacht noch lärmender)

Oh, Er ist dumm, ganz abscheulich dumm!

(gerührt)

Wozzeck, Er ist ein guter Mensch,

(setzt sich in Positur)

aber...

(wie eine Fanfare)

Er hat keine Moral!

(mit viel Würde)

Moral: das ist, wenn man moralisch ist!

Versteht Er? Es ist ein gutes Wort.

(mit Pathos)

Er hat ein Kind ohne den Segen der Kirche...

WOZZECK

Jawo...

(unterbricht sich)

HAUPTMANN

...wie unser hochwürdiger Herr Garnisonsprediger sagt:

"Ohne den Segen der Kirche" - das Wort ist nicht von mir.

WOZZECK

Herr Hauptmann, der liebe Gott

wird den armen Wurm nicht d'rum ansehn,

ob das Amen darüber gesagt ist, eh' er gemacht wurde.

Der Herr sprach: "Lasset die Kleinen zu mir kommen!"

HAUPTMANN

(wütend aufspringend)

Was sagt Er da?! Was ist das für eine kuriose Antwort?

(mit det Stimme überschnappend)

Er macht mich ganz konfus!

Wenn ich sage: "Er", so mein' ich "Ihn", "Ihn"...

WOZZECK

Wir arme Leut!

Sehn Sie, Herr Hauptmann, Geld, Geld! Wer kein Geld hat!

Da setz' einmal einer Seinesgleichen

auf die moralische Art in die Welt!

Man hat auch sein Fleisch und Blut!

Ja, wenn ich ein Herr wär',

und hätt' einen Hut und eine Uhr und ein Augenglas

und könnt' vornehm reden,

ich wollte schon tugendhaft sein!

Es muss was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann.

Aber ich bin ein armer Kerl!

Unsereins ist doch einmal unselig

in dieser und der andern Welt!

Ich glaub', wenn wir in den Himmel kämen,

so müssten wir donnern helfen!

HAUPTMANN

(etwas fassungslos)

Schon gut, schon gut!

(beschwichtigend)

Ich weiss: Er ist ein guter Mensch,

(übertrieben)

ein guter Mensch.

(etwas gefasster)

Aber Er denkt zu viel, das zehrt.

Er sieht immer so verhetzt aus.

(besorgt)

Der Diskurs hat mich angegriffen.

Geh' Er jetzt, und renn' Er nicht so!

Geh' Er langsam die Strasse hinunter,

(Wozzeck will sich rasch entfernen)

genau in der Mitte, und nochmals,

geh' Er langsam, hübsch langsam!

(Wozzeck ab)

Orchester-Nachspiel.

Zweite Szene

Freies Feld, die Stadt in der Ferne. Spätnachmittag.
Wozzeck und Andres schneiden Stöcke im Gebüsch.

WOZZECK

Du, der Platz ist verflucht!

ANDRES

(weiter arbeitend; gesprochen)

Ach was!

(singt vor sich hin)

Das ist die schöne Jägerei,

Schiessen steht Jedem frei!

Da möcht ich Jäger sein,

Da möcht ich hin.

WOZZECK

Der Platz ist verflucht!

Siehst Du den lichten Streif da

über das Gras hin,

wo die Schwämme so nachwachsen?

Da rollt Abends ein Kopf.

Hob ihn einmal Einer auf,

meint', es wär' ein Igel.

Drei Tage und drei Nächte drauf,

und er lag auf den Hobelspänen.

(Wozzeck arbeitet weiter)

ANDRES

Es wird finster, das macht Dir angst.

Ei was!

(hört mit der Arbeit auf, stellt sich in Positur und singt)

Läuft dort ein Has vorbei,

Fragt mich, ob ich Jäger sei?

Jäger bin ich auch schon gewesen,

Schiessen kann ich aber nit!

(Wozzeck unterbricht seine Arbeit.)

WOZZECK

Still, Andres! Das waren die Freimaurer!

Zusammen

ANDRES

Sassen dort zwei Hasen,

Frassen ab das grüne Gras.

(unterbricht den Gesang)

WOZZECK

Ich hab's! Die Freimaurer!

Still! Still!

(Beide lauschen angestrengt. Dann Andres selbst etwas beunruhigt; wie um Wozzeck und sich zu beruhigen.)

ANDRES

Sing lieber mit!

(ausgelassen gesungen)

Frassen ab das grüne Gras

Bis...

(unterbricht den Gesang)

WOZZECK

(stampft auf)

Hohl! Alles hohl!

Zusammen

ANDRES

...auf den Rasen...

WOZZECK

Ein Schlund! Es schwankt!

(er taumelt)

WOZZECK

Hörst Du, es wandert was mit uns da unten!

(in höchster Angst, geschrieen)

Fort, fort!

(will Andres mit sich reißen)

ANDRES

(hält Wozzeck zurück)

He, bist Du toll?

WOZZECK

(bleibt stehn)

's ist kurios still. Und schwül.

Man möchte den Atem anhalten...

(starrt in die Gegend)

ANDRES

Was?

(Die Sonne ist im Begriff unterzugehen. Der letzte scharfe Strahl taucht den Horizont in das grellste Sonnenlicht, dem die wie tiefste Dunkelheit wirkende Dämmerung folgt.)

WOZZECK

Ein Feuer! Ein Feuer! Das fährt von der Erde in den Himmel

und ein Getös' herunter wie Posaunen.

(schreiend)

Wie's heranklirrt!

ANDRES

(mit geheuchelter Gleichgültigkeit)

Die Sonn' ist unter, drinnen trommeln sie.

(Packt die geschnittenen Stöcke zusammen.)

WOZZECK

Still, alles still, als wäre die Welt tot.

ANDRES

Nacht! Wir müssen heim!

(Beide gehen langsam ab.)

Orchester-Nachspiel und beginnende Militärmusik hinter der Szene.

Dritte Szene

Mariens Stube. Abends. Die Militärmusik nähert sich.
Marie mit ihrem Kinde am Arm beim Fenster.

MARIE

Tschin Bum, Tschin Bum, Bum, Bum, Bum!

Hörst Bub? Da kommen sie!

Die Militärmusik, mit dem Tambourmajor an der Spitze, gelangt in die Strasse vor Mariens Fenster.

Margret auf der Strasse, sieht zum Fenster herein und spricht mit Marie.

MARGRET

Was ein Mann! Wie ein Baum!

MARIE

(spricht zum Fenster hinaus)

Er steht apf seinen Füssen wie ein Löw'.

(Der Tambourmajor grüsst herein. Marie winkt freundlich hinaus.)

MARGRET

Ei was freundliche Augen, Frau Nachbarin!

So was is man an ihr nit gewohnt!

MARIE

(singt vor sich hin)

Soldaten, Soldaten

sind schöne Burschen!

MARGRET

Ihre Augen glänzen ja!

MARIE

Und wenn! Was geht Sie's an?

Trag' Sie ihre Augen zum Juden und lass Sie sie putzen:

vielleicht glänzen sie auch noch,

dass man sie für zwei Knöpf' verkaufen könnt'.

MARGRET

Was Sie, Sie "Frau Jungfer"! Ich bin eine honette Person,

aber Sie, das weiss Jeder, Sie guckt sieben Paar lederne

Hosen durch!

MARIE

(schreit sie an)

Luder!

(schlägt das Fenster zu. Die Militärmusik ist plötzlich, als Folge des zugeschlagenen Fensters, unhörbar geworden. Marie ist allein mit dem Kind.)

MARIE

Komm, mein Bub!

Was die Leute wollen!

Bist nur ein arm' Hurenkind

und machst Deiner Mutter doch so viel Freud'

mit Deinem unehrlichen Gesicht!

(wiegt das Kind)

Eia popeia...

Mädel, was fangst Du jetzt an?

Hast ein klein Kind und kein Mann!

Ei, was frag' ich darnach,

Sing' ich die ganze Nacht:

Eia popeia, mein süsser Bu',

Gibt mir kein Mensch nix dazu!

Hansel, spann' Deine sechs Schimmel an,

Gib sie zu fressen auf's neu,

Kein Haber fresse sie,

Kein Wasser saufe sie,

Lauter kühle Wein muss es sein!

(Das Kind ist eingeschlafen.)

Lauter kühle Wein muss es sein!

Lauter kühle Wein muss es sein!

(Marie in Gedanken versunken.)

(Es klopft am Fenster. Marie fährt zusammen.)

MARIE

Wer da?

(aufspringend)

Bist Du's, Franz?

(das Fenster öffnend)

Komm herein!

WOZZECK

(zum Fenster hereinsprechend)

Kann nicht! Muss in die Kasern'!

MARIE

Hast Stecken geschnitten für den Major?

WOZZECK

Ja, Marie. Ach...

MARIE

Was hast Du, Franz? Du siehst so verstört?

WOZZECK

Pst, still! Ich hab's heraus!

Es war ein Gebild am Himmel,

und Alles in Glut!

Ich bin Vielem auf der Spur!

MARIE

Mann!

WOZZECK

Und jetzt Alles finster, finster...

Marie, es war wieder was,

(er überlegt)

vielleicht...

(geheimnisvoll)

Steht nicht geschrieben: "Und sieh,

es ging der Rauch auf vom Land,

wie ein Rauch vom Ofen."

MARIE

Franz!

WOZZECK

Es ist hinter mir hergegangen bis vor die Stadt.

(in höchster Exaltation)

Was soll das werden?!

MARIE

(ganz ratlos, versucht ihn zu beruhigen)

Franz! Franz!

(hält ihm den Buben hin)

Dein Bub!

WOZZECK

(geistesabwesend)

Mein Bub...

(ohne ihn anzusehn)

Mein Bub... jetzt muss ich fort.

(hastig ab)

MARIE

(geht vom Fenster weg, allein mit dem Kind, betrachtet es schmerzlich)

Der Mann! So vergeistert! Er hat sein Kind nicht angesehn!

Er schnappt noch über mit den Gedanken!

Was bist so still, Bub. Fürch'st Dich?

Es wird so dunkel, man meint, man wird blind;

sonst scheint doch die Lantern' herein!

(ausbrechend)

Ach! Wir arme Leut.

Ich halt's nit aus... Es schauert mich!

(stürzt zur Tür)

Vorhang rascht zu.

Orchester Überleitung.

Vierte Szene

Studierstube des Doktors. Sonniger Nachmittag.

Wozzeck tritt ein. Der Doktor eilt hastig Wozzeck entgegen.

DOKTOR

Was erleb' ich, Wozzeck? Ein Mann ein Wort? Ei, ei, ei!

WOZZECK

Was denn, Herr Doktor?

DOKTOR

Ich hab's geseh'n, Wozzeck, Er hat wieder gehustet,

auf der Strasse gehustet, gebellt wie ein Hund!

Geh' ich Ihm dafür alle Tage drei Groschen?

Wozzeck! Das ist schlecht!

Die Welt ist schlecht, sehr schlecht! Oh!

WOZZECK

Aber Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt!

DOKTOR

(auffahrend)

Die Natur kommt! Die Natur kommt!

Aberglaube, abscheulicher Aberglaube!

Hab' ich nicht nachgewiesen, dass das Zwerchfell

dem Willen unterworfen ist?

(wieder auffahrend)

Die Natur, Wozzeck! Der Mensch ist frei!

In dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit!

(kopfschüttelnd, mehr zu sich)

Husten müssen!

(wieder zu Wozzeck)

Hat Er schon seine Bohnen gegessen, Wozzeck?

Nichts als Bohnen, nichts als Hülsenfrüchte! Merk' Er sich's!

Die nächste Woche fangen wir dann mit Schöpsenfleisch an.

Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft:

(an den Fingern aufzählend)

Eiweiss, Fette, Kohlenhydrate;

und zwar: Oxyaldehydanhydride...

(plötzlich empört)

Aber, Er hat wieder gehustet...

(tritt auf Wozzeck zu; sich plötzlich beherrschend)

Nein! Ich ärgere mich nicht, ärgern ist ungesund,

ist unwissenschaftlich!

Ich bin ganz ruhig, / mein Puls hat seine gewöhnlichen Sechzig,

behüt, wer wird sich über einen Menschen ärgern!

Wenn es noch ein Molch wäre, der einem unpässlich wird.

(wieder heftig)

Aber, aber, Wozzeck, Er hätte doch nicht husten sollen!

WOZZECK

(den Doktor beschwichtigend)

Seh'n Sie, Herr Doktor, manchmal hat man so 'nen Charakter,

so'ne Struktur; aber mit der Natur ist's was ander's.

(knackt mit den Fingern)

Seh'n Sie, mit der Natur...

DOKTOR

Wozzeck.

Zusammen

WOZZECK

...das ist so... wie soll ich denn sagen...

zum Beispiel: Wenn die Natur... wenn die Natur... aus ist...

DOKTOR

Er philosophiert wieder! Was? Wenn die Natur...

WOZZECK

...wenn die Welt so finster wird,

dass man mit den Händen an ihr herumtappen muss,

dass man meint, sie verrinnt wie Spinnengewebe.

Ach, wenn was is und doch nicht is! Ach, Ach, Marie!

Wenn Alles dunkel is, und

(macht mit ausgestreckten Armen ein paar grosse Schritte durchs Zimmer)

nur noch ein roter Schein im Westen...

Zusammen

WOZZECK

...wie von einer Esse: an was soll man sich da halten?

DOKTOR

Kerl, Er tastet mit seinen Füssen herum,

wie mit Spinnenfüssen.

WOZZECK

(bleibt nahe beim Doktor stehen, vertraulich)

Herr Doktor. Wenn die Sonne im Mittag steht,

und es ist, als ging' die Welt in Feuer auf,

hat schon eine fürchterliche Stimme zu mir geredet.

DOKTOR

Wozzeck, Er hat eine Aberratio...

WOZZECK

(unterbricht den Doktor)

Die Schwämme! Haben Sie schon die Ringe

von den Schwämmen am Boden gesehn?

Linienkreise, Figuren, Wer das lesen könnte!

DOKTOR

Wozzeck, Er kommt ins Narrenhaus.

Er hat eine schöne fixe Idee, eine köstliche Aberratio

mentalis partialis, zweite Spezies!

Sehr schön ausgebildet!

Wozzeck, Er kriegt noch mehr Zulage!

Tut Er noch Alles wie sonst?: Rasiert seinen Hauptmann?

Fängt fleissig Molche?

Isst seine Bohnen?

WOZZECK

Immer ordentlich, Herr Doktor;

denn das Menagegeld kriegt das Weib: Darum tu' ich's ja!

DOKTOR

Er ist ein intressanter Fall, halt' Er sich nur brav!

Wozzeck, Er kriegt noch einen Groschen mehr Zulage.

Was muss Er aber tun?

WOZZECK

(ohne sich um den Doktor zu kümmern)

Ach, Marie!

DOKTOR

Was muss Er tun?

WOZZECK

Marie! Ah!

DOKTOR

Bohnen essen, dann Schöpsenfleisch essen, nicht husten,

seinen Hauptmann rasieren, dazwischen die fixe Idee pflegen!

(immer mehr in Ekstase geratend)

Oh! meine Theorie! Oh mein Ruhm!

Ich werde unsterblich! Unsterblich! Unsterblich!

(in höchster Verzückung)

Unsterblich!

(plötzlich wieder ganz sachlich, an Wozzeck herantretend)

Wozzeck, zeig' Er mir jetzt die Zunge!

(Wozzeck gehorcht.)

Orchester-Einleitung.

Fünfte Szene

Strasse vor Mariens Tür. Abenddämmerung.

MARIE

(steht bewundernd vor dem Tambourmajor)

Geh einmal vor Dich hin.

(Tambourmajor in Positur, macht einige Marschschritte)

Über die Brust wie ein Stier und ein Bart wie ein Löwe.

So ist Keiner! Ich bin stolz vor allen Weibern!

TAMBOURMAJOR

Wenn ich erst am Sonntag den grossen Federbusch hab', und

die weissen Handschuh! Donnerwetter! Der Prinz sagt immer:

"Mensch! Er ist ein Kerl!"

MARIE

(spöttisch)

Ach was!

(tritt vor ihn hin. Bewundernd)

Mann!

TAMBOURMAJOR

Und Du bist auch ein Weibsbild! Sapperment! Wir wollen

eine Zucht von Tambourmajors anlegen. Was?!

(er umfasst sie)

MARIE

Lass mich!

(will sich losreissen. Sie ringen miteinander)

TAMBOURMAJOR

Wildes Tier!

MARIE

(reisst sich los)

Rühr mich nicht an!

TAMBOURMAJOR

(richtet sich in ganzer Grösse auf und tritt nahe an Marie heran; eindringlich)

Sieht Dir der Teufel aus den Augen?!

(er umfasst sie wieder, diesmal mit fast drohender Entschlossenheit)

MARIE

Meinetwegen, es ist Alles eins!

(Sie stürzt in seine Arme und verschwindet mit ihm in der offenen Haustür.)

Zweiter Akt
Erste Szene

Mariens Stube. Vormittag, Sonnenschein.
Marie, ihr Kind auf dem Schoss, hält ein Stückchen Spiegel in der Hand und besieht sich darin.

MARIE

Was die Steine glänzen?

Was sind's für welche?

Was hat er gesagt?

(überlegt; zu ihrem Buben, der sich bewegt hat)

Schlaf, Bub! Drück die Augen zu...

(Das Kind versteckt die Augen hinter den Händen.)

Fest. Noch fester!

Bleib so!

(Das Kind bewegt sich wieder.)

Still, oder er holt Dich!

(mit verstellt unheimchen, aber gleichzeitig mit keckem, fast ausgelassenem Ausdruck)

Mädel, mach's Lädel zu!

's kommt ein Zigeunerbu',

Führt Dich an seiner Hand

Fort ins Zigeunerland.

(Das Kind hat, in höchster Angst, seinen Kopf in den Falten des Kleides seiner Mutter verborgen, wo es ganz still hält. Marie besieht sich wieder im Spiegel.)

's ist gewiss Gold.

Unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt

und ein Stückchen Spiegel.

(ausbrechend)

Und doch hab' ich einen so roten Mund,

als die grossen Madamen mit ihren Spiegeln von oben bis unten

und ihren schönen Herrn, die ihnen die Hände küssen;

aber ich bin nur ein armes Weibsbild!

(Das Kind richtet sich auf; Marie ärgerlich.)

Still! Bub! Die Augen zu!

(blinkt mit dem Spiegel)

Das Schlafengelchen; wie's an der Wand läuft.

(Das Kind gehorcht nicht; Marie fast zornig.)

Mach die Augen zu!

Oder es sieht Dir hinein, dass Du blind wirst...

Wozzeck tritt herein, hinter Marie. Marie, die regungslos, wie das eingeschüchterte Kind, die Wirkung ihres Spiels mit dem Spiegel abwartet, sieht Wozzeck anfangs nicht. Plötzlich fährt sie auf, mit den Händen nach den Ohren.

WOZZECK

Was hast da?

MARIE

Nix!

Zusammen

WOZZECK

Unter Deinen Fingern glänzt's ja.

MARIE

Ein Ohrringlein...

MARIE

...hab's gefunden...

WOZZECK

(schaut das Ohrringlein prüfend an)

Ich hab so was noch nicht gefunden,

(etwas drohend)

zwei auf einmal.

MARIE

Bin ich ein schlecht Mensch?

WOZZECK

(beschwichtigend)

's ist gut, Marie! 's ist gut.

(wendet sich zum Buben)

Was der Bub immer schläft!

Greif ihm unter's Ärmchen, der Stuhl drückt ihn.

Die hellen Tropfen stehn ihm auf der Stirn...

Nichts als Arbeit unter der Sonne,

sogar Schweiss im Schlaf.

Wir arme Leut!

(in ganz verändertem Ton)

Da ist wieder Geld, Marie,

(zählt es ihr in die Hand)

die Löhnung und was vom Hauptmann und vom Doktor.

MARIE

Gott vergelts, Franz.

WOZZECK

Ich muss fort, Marie... Adies!

(Wozzeck ab)

MARIE

(allein)

Ich bin doch ein schlecht Mensch.

Ich könnt mich erstechen.

Ach! was Welt!

Geht doch Alles zum Teufel:

Mann und Weib und Kind!

Orcherster-Nachspiel.

Zweite Szene

Strasse in der Stadt. Tag.
Der Hauptmann und der Doktor begegnen sich.

HAUPTMANN

(schon aus der Entfernung)

Wohin so eilig, geehrtester Herr Sargnagel?

DOKTOR

(sehr pressiert)

Wohin so langsam, geehrtester Herr Exercizengel?

HAUPTMANN

Nehmen Sie sich Zeit

(will den Doktor, der rasch weitergeht, einholen)

DOKTOR

Pressiert!

HAUPTMANN

Laufen Sie nicht so! Uff!

(schöpft tief und geräuschvoll Atem)

Laufen Sie nicht! Ein guter Mensch geht nicht so schnell.

Ein guter Mensch...

DOKTOR

Pressiert, pressiert!

HAUPTMANN

Ein guter... Sie hetzen sich ja hinter dem Tod d'rein!

DOKTOR

(im Gehen etwas einhaltend, so dass ihn der Hauptmann einholt, ärgerlich)

Ich kann meine Zeit nicht stehlen.

HAUPTMANN

Ein guter Mensch...

DOKTOR

Pressiert, pressiert, pressiert!

HAUPTMANN

(erwischt den Doktor einigemale am Rock)

Aber rennen Sie nicht so, Herr Sargnagel! Sie schleifen

ja Ihre Beine auf dem Pflaster ab.

(hält den Doktor endlich fest; zwischen den einzelnen Worten tief keuchend)

Erlauben Sie, dass ich ein Menschenleben

(sich langsam beruhigend

rette.

(tiefer Atemzug)

DOKTOR

(langsam weitergehend, entschliesst sich, dem Hauptmann Gehör zu schenken)

Frau, in vier Wochen tot!

(bleibt wieder stehen, geheimnisvoll)

Cancer uteri. Habe schon zwanzig solche Patienten gehabt

(will weitergehen)

In vier Wochen...

HAUPTMANN

Doktor, erschrecken Sie mich nicht! Es sind schon Leute

am Schreck gestorben, am puren hellen Schreck!

DOKTOR

In vier Wochen! Gibt ein intressantes Präparat.

HAUPTMANN

Oh, oh, oh!

DOKTOR

(ganz stehenbleibend, kaltblütig den Hauptmann prüfend)

Und Sie selbst! Hm! Aufgedunsen, fett, dicker Hals,

apoplektische Konstitution! Ja, Herr Hauptmann,

(geheimnisvoll)

Sie können eine Apoplexia cerebri kriegen; Sie können sie

aber vielleicht nur auf der einen Seite bekommen. Ja! Sie

können nur auf der einen Seite gelähmt werden,

(wieder sehr geheimnisvoll)

oder im besten Fall nur unten!

HAUPTMANN

(stöhnend)

Um Gottes...

DOKTOR

(überströmend, begeistert)

Ja! Das sind so ungefähr

Ihre Aussichten auf die nächsten vier Wochen!

Übrigens kann ich Sie versichern,

dass Sie einen von den intressanten Fällen abgeben werden,

und wenn Gott will, dass ihre Zunge zum Teil gelähmt wird,

so machen wir die unsterblichsten Experimente.

(will mit rascher Wendung enteilen, Hauptmann langt schnell nach dem Doktor und hält ihn fest)

HAUPTMANN

Halt, Doktor! Ich lasse Sie nicht! Sargnagel! Totenfreund!

In vier Wochen?

(schon ganz atemlos)

Es sind schon Leute am puren Schreck... Doktor!

(hustet vor Aufregung und Anstrengung. Doktor klopft dem Hauptmann auf den Rücken, um ihm das Husten zu erleichtern, Hauptmann gerührt)

Ich sehe schon die Leute mit den Sacktüchern vor den Augen.

(immer gerührter)

Aber sie werden sagen: "Er war ein guter Mensch,

ein guter Mensch."

Wozzeck geht rasch verbei, salutiert. Der Doktor, der peinlich berührt ist und abzulenken sucht, sieht Wozzeck.

DOKTOR

He, Wozzeck!

(Wozzeck bleibt stehen)

Was hetzt Er sich so an uns vorbei?

(Wozzeck salutiert und will wieder gehen)

Bleib Er doch, Wozzeck!

(Wozzeck bleibt schliesslich stehen und kommt langsam zurück.)

HAUPTMANN

(wieder gefasst, zu Wozzeck)

Er läuft ja wie ein offenes Rasiermesser durch die Welt,

man schneidet sich an Ihm!

(betrachtet Wozzeck näher, der stumm und ernst dasteht. Wendet sich daher - etwas beschämt - zum Doktor. Mit Anspielung auf dessen Vollbart)

Er läuft, als hätt' er die Vollbärte aller Universitäten

zu rasieren, und würde gehängt,

so lang noch ein letztes Haar...

Ja richtig,

(pfeift)

die langen Bärte... was wollte ich doch sagen?

(nachsinnend, hie und da in Gedanken pfeifend)

die langen Bärte...

DOKTOR

(zitierend)

"Ein langer Bart unter dem Kinn"... hm!...

Zusammen

DOKTOR

Schon Plinius spricht davon.

(Hauptmann kommt durch die Anspielung des Doktors darauf und schlägt sich auf die Stirn)

Man muss ihn den Soldaten abgewöhnen...

HAUPTMANN

(sehr bedeutsam)

Ha! Ich hab's...

HAUPTMANN

...die langen Bärte! Was ist's, Wozzeck?

(Doktor hört von hier an belustigt dem Hauptmann zu und summt hie und da sein Thema, indern er mit seinem Spazierstock, gleich einem Tambourstab, den Takt dazu markiert)

HAUPTMANN

Hat Er nicht ein Haar aus einem Bart in seiner Schüssel

gefunden? Haha! Er versteht mich doch? Ein Haar von

einem Menschen, vom Bart eines Sappeurs, oder eines

Unteroffiziers, oder eines Tambourmajors.

DOKTOR

He, Wozzeck? Aber Er hat doch ein braves Weib?

WOZZECK

Was wollen Sie damit sagen, Herr Doktor,

und Sie, Herr Hauptmann?!

HAUPTMANN

Was der Kerl für ein Gesicht macht! Nun!

Wenn auch nicht grad in der Suppe, aber wenn Er sich eilt

und um die Ecke läuft, so kann Er vielleicht noch

auf einem Paar Lippen eins finden! Ein Haar nämlich!

Übrigens, ein Paar Lippen! Oh, ich habe auch einmal

die Liebe gefühlt!

(in ganz verändertem Ton)

Aber, Kerl, Er ist ja kreideweiss!

WOZZECK

Herr Hauptmann, ich bin ein armer Teufel!

Hab' sonst nichts auf dieser Welt!

Herr Hauptmann, wenn Sie Spass machen...

HAUPTMANN

(auffahrend)

Spass? Ich? Dass Dich der...

Zusammen

WOZZECK

Herr Hauptmann,

die Erd' ist Manchem höllenheiss...

die Hölle ist kalt dagegen.

Herr... Herr Hauptmann...

(entreisst seine Hand dem Doktor)

(vor sich hin, aber mit Steigerung)

Es ist viel möglich...

Der Mensch... Es ist viel möglich...

HAUPTMANN

Spass! Kerl?

Kerl, will Er sich erschiessen?

Er sticht mich ja mit seinen Augen!

Ich mein's gut mit Ihm,

weil Er ein guter Mensch ist, Wozzeck,

(gerührt)

ein guter Mensch!

DOKTOR

Den Puls, Wozzeck!

(ergreift Wozzecks Puls)

Klein... hart... arhythmisch.

(betrachtet Wozzeck prüfend)

Gesichtsmuskein starr, gespannt,

Augen stier.

WOZZECK

Gott im Himmel!

Man könnte Lust bekommen,

sich aufzuhängen!

Dann wüsste man, woran man ist!

(stürzt, ohne zu grüssen, davon)

HAUPTMANN

(blickt Wozzeck betreten nach)

Wie der Kerl läuft und sein Schatten hinterdrein!

DOKTOR

Er ist ein Phänomen, dieser Wozzeck!

HAUPTMANN

Mir wird ganz schwindlich vor dem Menschen!

Und wie verzweifelt! Das hab' ich nicht gern!

(Der Doktor an, der einen neuen Gefühlsausbruch befürchtet und sich bei diesem Wort des Hauptmanns, als besänne er sich der Eile zu Anfang der Szene, in Bewegung setzt. Hauptmann schon in Abgehen.)

Ein guter Mensch ist dankbar gegen Gott;

ein guter Mensch hat auch keine Courage!

(mit Beziehung auf Wozzeck)

Nur ein Hundsfott hat Courage!

(schliesst sich dem Doktor an)

Nur ein Hundsfott!...

HAUPTMANN

(hinter der Szene)

Hundsfott...

Der Vorhang fällt.

Überleitende Takte und Kammerorchester-Einleitung.

Dritte Szene

Gasse vor Mariens Wohnungstür. Trüber Tag.
Marie steht vor ihrer Tür.

Wozzeck kommt auf dem Gehsteig rasch auf sie zu.

MARIE

Guten Tag, Franz.

WOZZECK

(sieht sie starr an und schüttelt den Kopf)

Ich seh' nichts, ich seh' nichts. O, man müsst's

seh'n, man müsst's greifen können mit den Fäusten!

MARIE

Was hast, Franz?

WOZZECK

Bist Du's noch, Marie?! Eine Sünde, so dick und breit.

Das müsst' stinken, dass man die Engel zum Himmel

hinausräuchern könnt'. Aber Du hast einen roten Mund,

einen roten Mund... keine Blase drauf?

MARIE

Du bist hirnwütig, Franz, ich fürcht' mich...

WOZZECK

Du bist schön "wie die Sünde". Aber kann die Todsünde

so schön sein, Marie?

(zeigt plötzlich auf eine Stelle vor der Tür, auffahrend)

Da! Hat er da gestanden,

(in Positur)

so, so?

MARIE

Ich kann den Leuten die Gasse nicht verbieten.

WOZZECK

Teufel! Hat er da gestanden?

MARIE

Dieweil der Tag lang und die Welt alt ist, können viele

Menschen an einem Platze stehn, einer nach dem andern.

WOZZECK

Ich hab ihn gesehn!

MARIE

Man kann viel sehn, wenn man zwei Augen hat und wenn man

nicht blind ist und wenn die Sonne scheint.

WOZZECK

(der sich immer weniger beherrschen kann, ausbrechend)

Du bei ihm!

MARIE

Und wenn auch!

WOZZECK

(geht auf sie los, schreien)

Mensch!

MARIE

Rühr' mich nicht an!

(Wozzeck lässt langsam die erhobene Hand sinken)

Lieber ein Messer in den Leib, als eine Hand auf mich.

Mein Vater hat's nicht gewagt, wie ich zehn Jahr alt war...

(ins Haus ab)

WOZZECK

(sieht ihr starr nach)

"Lieber ein Messer"...

(scheu flüsternd)

Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt Einem, wenn man hinunterschaut

(im Abgehen)

mich schwindelt...

Leere Bühne.

Der Vorhang langsam zu.

Überleitende Takte und Orchester-Vorspiel (Ländler).

Vierte Szene

Wirtshausgarten. Spät abends.
Die Wirtshausmusik auf der Bühne beendet soeben den Ländlek des Orchester-Vorspiels.
Burschen, Soldaten und Mägde auf dem Tanzboden, teils tanzend, teil zusehend.

ERSTER HANDWERKSBURSCHE

Ich hab' ein Hemdlein an, das ist nicht mein.

ZWETER HANDWERKSBURSCHE

Das ist nicht mein...

ERSTER HANDWERKSBURSCHE

Und meine Seele stinkt nach Branntewein.

(Die Burschen, Soldaten und Mägde verlassen gemächlich den Tanzboden und sammeln sich in Gruppen. Eine Gruppe um die zwei betrunkenen Handwerksburschen.)

ERSTER HANDWERKSBURSCHE

Meine Seele, meine unsterbliche Seele,

stinket nach Branntewein!

Sie stinket, und ich weiss nicht, warum?

Warum ist die Welt so traurig?

Selbst das Geld geht in Verwesung über!

ZWETER HANDWERKSBURSCHE

Vergiss mein nicht! Bruder! Freundschaft!

(umarmt ihn)

Warum ist die Welt so schön!

Ich wollt', unsre Nasen wären zwei Bouteillen,

und wir könnten sie uns einander in den Hals giessen.

Zusammen

ERSTER HANDWERKSBURSCHE

Meine Seele, meine unsterbliche Seele stinket!

ZWETER HANDWERKSBURSCHE

Die ganze Welt ist rosenrot!

Branntwein, das ist mein Leben!

ERSTER HANDWERKSBURSCHE

Oh! Das ist traurig, traurig, traurig, trau...

(schläft ein)

Burschen, Soldaten und Mägde begeben sich wieder auf den Tanzboden und beginnen zu tanzen. Unter ihnen Marie und der Tambourmajor.

Wozzeck tritt hastig auf, sieht Marie, die mit dem Tarnbourmajor vorbeitanzt.

WOZZECK

Er! Sie! Teufel!

MARIE

(im Vorbeitanzen)

Immerzu, immerzu!

WOZZECK

(immer gesprochen)

Immer zu, immer zu!

(sinkt auf eine Bank in der Nähe des Tanzbodens. Vor sich hin)

Dreht Euch! Wälzt Euch!

Warum löscht Gott die Sonne nicht aus?...

Alles wälzt sich in Unzucht übereinander:

Mann und Weib, Mensch und Vieh!

(sieht wieder auf den Tanzboden hin)

Weib! Weib!

Das Weib ist heiss!

ist heiss! heiss!

(fährt heftig auf)

Wie er an ihr herumgreift!

An ihrem Leib! Und sie lacht dazu!

MARIE

Immer zu!

TAMBOURMAJOR

Immer zu!

WOZZECK

(gerät in immer grössere Aufregung)

Verdammt!

(kann schliesslich nicht mehr an sich halten und will auf den Tanzboden stürzen)

Ich...

(Unterlässt es aber, da der Tanz beendet ist. Er setzt sich wieder.)

BURSCHEN, SOLDATEN

Ein Jäger aus der Pfalz

Ritt einst durch einen grünen Wald!

Halli, Hallo, Halli, Hallo!

Ja lustig ist die Jägerei. Halli!

Allhie auf grüner

Haid! Halli, Hallo! Halli, Hallo!

(Andres die Gitarre ergreifend, spielt sich als Dirigent des Chores auf und gibt ein Ritardando, so dass er in den verklingenden Akkord des Chores einsetzen kann.)

ANDRES

(leiernd)

O Tochter, liebe Tochter,

Was hast Du gedenkt,

Dass Du Dich an die Kutscher

Und die Fuhrknecht hast gehängt?

Zusammen

BURSCHEN, SOLDATEN

Ja lustig ist die Jägerei,

Allhie auf grüner Haid!

Halli, Hallo! Halli, Hallo!

ANDRES

Hallo!

(Andres gibt die Gitarre dem Spieler von der Wirtshausmusik zurück und wendet sich zum Wozzeck)

WOZZECK

Wieviel Uhr?

ANDRES

Elf Uhr!

WOZZECK

So? Ich meint', es müsst später sein! Die Zeit wird

Einem lang bei der Kurzweil...

ANDRES

Was sitzest Du da vor der Tür?

WOZZECK

Ich sitz' gut da. Es sind manche Leut' nah an der Tür

und wissen's nicht, bis man sie zur Tür hinausträgt,

die Füss' voran!

ANDRES

Du sitzest hart.

WOZZECK

Gut sitz' ich, und im kühlen Grab, da lieg' ich dann

noch besser...

ANDRES

Bist besoffen?

WOZZECK

Nein, leider, bring's nit z'sam,

(Andres, gelangweilt und mit den Gedanken schon mehr beim Tanz, wendet sich pfeifend von Wozzeck ab. Der erste Handwerksbursche, der inzwischen aufgewacht ist, steigt auf einen Tisch und beginnt, von der Wirtshausmusik auf der Bühne melodramatisch begleitet, zu predigen.)

ERSTER HANDWERKSBURSCHE

Jedoch, wenn ein Wanderer,

der gelehnt steht an dem Strom der Zeit,

oder aber sich die göttliche Weisheit vergegenwärtigt

und fraget: Warum ist der Mensch?

(mit Pathos)

Aber wahrlich, geliebte Zuhörer, ich sage Euch:

(verzückt)

Es ist gut so!

Denn von was hätten der Landmann,

der Fassbinder, der Schneider, der Arzt leben sollen,

wenn Gott den Menschen nicht geschaffen hätte?

Von was hätte der Schneider leben sollen,

wenn Er nicht dem Menschen die Empfindung

der Schamhaftigkeit eingepflanzt hätte?

Von was der Soldat und der Wirt,

wenn Er ihn nicht mit dem Bedürfnis des Totschiessens

und der Feuchtigkeit ausgerüstet hätte?

Darum, Geliebteste, zweifelt nicht;

denn es ist Alles lieblich und fein...

Aber alles Irdische ist eitel;

selbst das Geld geht in Verwesung über...

Und meine Seele stinkt nach Branntewein.

(Allgemeines Gejohle! Der Redner wird umringt und von einem Teil der Burschen abgeführt. Die Übrigen begeben sich singend teils zum Tanzboden, teils zu den Tischen im Hintergrund.)

BURSCHEN, SOLDATEN

Ja lustig ist die Jägerei.

ANDRES

O Tochter, liebe Tochter!

Der Narr taucht plötzlich auf und nähert sich Wozzeck, der, teilnahmslos an den Vorgängen, auf der Bank vorn gesessen hat. Der Narr drängt sich an Wozzeck heran. Die Instrumentalisten der Wirtshausmusik beginnen ihre Instrumente zu stimmen.

NARR

Lustig, lustig...

(Wozzeck beachtet den Narren anfangs nicht.)

...aber es riecht...

WOZZECK

Narr, was willst Du?

NARR

Ich riech, ich riech Blut!

WOZZECK

Blut?... Blut, Blut!

(Die Burschen, Mägde und Soldaten, unter ihnen Marie und der Tambourrnajor, beginnen wieder zu tanzen.)

WOZZECK

Mir wird rot vor den Augen.

Mir ist, als wälzten

sie sich alle übereinander...

Orchester-Nachspiel.

Fünfte Szene

Wachstube in der Kaserne. Nachts.
Wortloster Chor der schlafenden Soldaten, anfangs bei geschlossenem Vorhang.
Andres liegt mit Wozzeck auf einer Pritsche und schläft.

WOZZECK

(stöhnt im Schlaf)

Oh! oh!

(auffahrend)

Andres! Andres! Ich kann nicht schlafen.

(Bei den Worten Wozzecks werden die schlafenden Soldaten unruhig, ohne aber aufzuwachen.)

Wenn ich die Augen zumach',

dann seh' ich sie doch immer,

und ich hör' die Geigen immerzu, immerzu.

Und dann spricht's aus der Wand heraus...

Hörst Du nix, Andres? Wie das geigt und springt?

ANDRES

Lass sie tanzen!

WOZZECK

Und dazwischen blitzt es immer vor den Augen wie ein Messer,

wie ein breites Messer!

ANDRES

Schlaf, Narr!

WOZZECK

Mein Herr und Gott,

(betet)

"und führe uns nicht in Versuchung, Amen!"

(Wortloser Gesang der schlafenden Soldaten.)

Tambourmajor poltert, stark angeheitert, herein.

TAMBOURMAJOR

Ich bin ein Mann! Ich hab' ein Weibsbild,

ich sag' Ihm, ein Weibsbild!

Zur Zucht von Tarnbourmajors!

Ein Busen und Schenkel! und alles fest.

Die Augen wie glühende Kohlen.

Kurzum ein Weibsbild, ich sag' Ihm...

ANDRES

He! Wer ist es denn?

TAMBOURMAJOR

Frag' Er den Wozzeck da!

(zieht eine Schnapsflasche aus der Tasche, trinkt daraus und hält sie dem Wozzeck hin)

Da, Kerl, sauf'! Ich wollt', die Welt wär Schnaps,

Schnaps, der Mann muss saufen!

(trinkt wieder)

Sauf', Kerl, sauf'!

(Wozzeck blickt weg und pfeift.)

(schreiend)

Kerl, soll ich Dir die Zung' aus dem Hals zieh'n

und sie Dir um den Leib wickeln?

(Sie ringen miteinander. Wozzeck unterliegt. Der Tambourmajor würgt den am Boden liegenden Wozzeck.)

Soll ich Dir noch so viel Atem lassen, als ein Altweiberfurz?

(über Wozzeck gebeugt)

Soll ich...

(Wozzeck sinkt erschöpft um. Der Tambourmajor lässt von Wozzeck ab, richtet sich auf und zieht die Schnapsflasche aus der Tasche.)

Jetzt soll der Kerl pfeifen!

(trinkt wieder)

Dunkelblau soll er sich pfeifen!

(pfeift dieselbe Melodie wie früher Wozzeck, triumphierend)

Was bin ich für ein Mann!

(Wendet sich zum Fortgehen und poltert zur Tür hinaus. Wozzeck hat sich indessen langsam erhoben und auf seine Pritsche gesetzt.)

EIN SOLDAT

(auf Wozzeck deutend)

Der hat sein Fett!

(legt sich um und schläft ein)

ANDRES

Er blut'...

(legt sich ebenfalls um und schläft ein)

WOZZECK

Einer nach dem Andern!

(bleibt sitzen und starrt vor sich hin)

(Die anderen Soldaten, die sich währened des Ringkampfes etwas aufgerichtet hatten, haben sich nach dem Abgang des Tambourmajors niedergelegt und schlafen nunmehr alle wieder.)

Dritter Akt
Erste Szene

Mariens Stube. Es ist Nacht. Kerzenlicht.
Marie sitzt am Tisch, blättert in der Bibel; das Kind in der Nähe.

MARIE

(liest in der Bibel)

"Und ist kein Betrug in seinem Munde erfunden worden..."

Herr-Gott! Herr-Gott! Sieh' mich nicht an!

(blättert weiter)

"Aber die Pharisäer brachten ein Weib zu ihm,

so im Ehebruch lebte." Jesus aber sprach:

"So verdamme ich dich auch nicht, geh' hin,

und sündige hinfort nicht mehr."

Herr-Gott!

(schlägt die Hände vors Gesicht. Das Kind drängt sich an Marie)

Der Bub' gibt mir einen Stich in's Herz. Fort!

(stösst das Kind von sich)

Das brüst' sich in der Sonne!

(plötzlich milder)

Nein, komm, komm her!

(zieht das Kind an sich)

Komm zu mir!

(gesprochen)

"Es war einmal ein armes Kind

und hatt' keinen Vater und keine Mutter...

war Alles tot und war Niemand auf der Welt,

und es hat gehungert und geweint Tag und Nacht.

Und weil es Niemand mehr hatt' auf der Welt..."

Der Franz ist nit kommen, gestern nit, heut' nit...

(blättert hastig in der Bibel)

Wie steht es geschrieben von der Magdalena?...

"Und kniete hin zu seinen Füssen

und weinte und küsste seine Füsse

und netzte sie mit Tränen und salbte sie mit Salben".

(schlägt sich auf die Brust)

Heiland! Ich möchte Dir die Füsse salben!

Heiland! Du hast Dich ihrer erbarmt,

erbarme Dich auch meiner!

Der Vorhang fällt langsam.

Orchester-Nachspiel.

Zweite Szene

Waldweg am Teich. Es dunkelt.
Marie kommt mit Wozzeck von rechts.

MARIE

Dort links geht's in die Stadt.

's ist noch weit. Komm schneller!

WOZZECK

Du sollst dableiben, Marie. Komm, setz' Dich.

MARIE

Aber ich muss fort.

WOZZECK

Komm.

(sie setzen sich)

Bist weit gegangen, Marie.

Sollst Dir die Füsse nicht mehr wund laufen.

's ist still hier! Und so dunkel.

Weisst noch, Marie, wie lang' es jetzt ist,

dass wir uns kennen?

MARIE

Zu Pfingsten drei Jahre.

WOZZECK

Und was meinst, wie lang' es noch dauern wird?

MARIE

(springt auf)

Ich muss fort.

WOZZECK

Fürchst Dich, Marie? Und bist doch fromm?

(lacht)

Und gut! Und treu!

(zieht sich wieder auf den Sitz; neigt sich, wieder ernst, zu Marie)

Was Du für süsse Lippen hast, Marie!

(küsst sie)

Den Himmel gäb' ich drum und die Seligkeit,

wenn ich Dich noch oft so küssen dürft!

Aber ich darf nicht! Was zitterst?

MARIE

Der Nachttau fällt.

WOZZECK

(flüstert vor sich hin)

Wer kalt ist, den friert nicht mehr!

Dich wird beim Morgentau nicht frieren.

MARIE

Was sagst Du da?

WOZZECK

Nix.

(Langes Schweigen. Der Mond geht auf.)

MARIE

Wie der Mond rot aufgeht!

WOZZECK

Wie ein blutig Eisen!

(zieht ein Messer)

MARIE

Was zitterst?

(springt auf)

Was willst?

WOZZECK

Ich nicht, Marie! Und kein Andrer auch nicht!

(packt sie an und stösst ihr das Messer in den Hals)

MARIE

Hilfe!

(sinkt nieder. Wozzeck beugt sich über sie. Marie stirbt.)

WOZZECK

Tot!

(richtet sich scheu auf und stürzt geräuschlos davon)

Vorhang zu.

Orchester-Uberleitung.

Dritte Szene

Eine Schenke. Nacht. Schwaches Licht.
Dirnen, unter ihnen Margret, und Burschen tanzen eine wilde Schnellpolka.
Wozzeck sitzt an einem der Tische.

WOZZECK

Tanzt Alle;

tanzt nur zu,

springt, schwitzt und stinkt,

es holt Euch doch

noch einmal der Teufel!

(stürzt ein Glas Wein hinunter; den Klavierspieler überschreiend)

Es ritten drei Reiter wohl an den Rhein,

Bei einer Frau Wirtin da kehrten sie ein.

Mein Wein ist gut, mein Bier ist klar,

Mein Töchterlein liegt auf der...

Verdammt!

(springt auf)

Komm, Margret!

(tanzt mit Margret ein paar Sprünge. Bleibt plötzlich stehen)

Komm, setz Dich her, Margret!

(führt sie an seinen Tisch und zieht sie auf seinen Schoss nieder)

Margret, Du bist so heiss

(drückt sie an sich; lässt sie los)

Wart nur, wirst auch kalt werden! Kannst nicht singen?

MARGRET

(vom Klavierspieler auf der Bühne begleitet, singt)

In's Schwabenland, da mag ich nit,

Und lange Kleider trag ich nit,

Denn lange Kleider, spitze Schuh,

Die kommen keiner Dienstmagd zu.

WOZZECK

(auffahrend)

Nein! keine Schuh,

man kann auch blossfüssig in die Höll' geh'n!

Ich möcht heut raufen, raufen...

MARGRET

Aber was hast Du an der Hand?

WOZZECK

Ich? Ich?

MARGRET

Rot! Blut!

WOZZECK

Blut? Blut?

(Es stellen sich Leute um sie.)

MARGRET

Freilich... Blut!

WOZZECK

Ich glaub', ich hab' mich geschnitten...

Zusammen

WOZZECK

...da an der rechten Hand...

Ich hab's daran abgewischt.

Was wollt Ihr? Was geht's Euch an?

Bin ich ein Mörder?

Platz! oder es geht wer zum Teufel!

MARGRET

Wie kommt's denn zum Ellenbogen?

Puh! Puh!

Da stinkt's nach Menschenblut!

BURSCHEN

Mit der rechten Hand am rechten Arm?

Blut, Blut, Blut, Blut!

DIRNEN

Freilich, da stinkt's nach Menschenblut!

(Wozzeck stürzt hinaus.)

Orchester-Nachspiel.

Vierte Szene

Waldweg am Teich. Mondnacht wie vorher.
Wozzeck kommt schnell herangewankt. Bleibt suchend stehen.

WOZZECK

Das Messer?

Wo ist das Messer? Ich hab's dagelassen...

Näher, noch näher.

Mir graut's!

Da regt sich was.

(laut geflüstert)

Still! Alles still und tot...

(geschrien)

Mörder! Mörder!

(wieder geflüstert)

Ha! Da ruft's. Nein, ich selbst.

(wankt suchend ein paar Schritte weiter und stösst auf die Leiche)

Marie!

Marie! Was hast Du für eine rote Schnur um den Hals?

Hast Dir das rote Halsband verdient, wie die Ohrringlein,

mit Deiner Sünde!

Was hängen Dir die schwarzen Haare so wild?!

Mörder! Mörder! Sie werden nach mir suchen.

Das Messer verrät mich!

(sucht fieberhaft)

Da, da ist's.

(am Teich)

So! Da hinunter

(wirft das Messer hinein)

Es taucht ins dunkle Wasser wie ein Stein.

(Der Mond bricht blutrot hinter den Wolken hervor. Wozzeck blickt auf.)

Aber der Mond verrät mich...

der Mond ist blutig.

Will denn die ganze Welt es ausplaudern?!

Das Messer, es liegt zu weit vorn,

sie finden's beim Baden

oder wenn sie nach Muscheln tauchen.

(geht in den Teich hinein)

Ich find's nicht.

Aber ich muss mich waschen.

Ich bin blutig. Da ein Fleck... und noch einer.

Weh! Weh!

ich wasche mich mit Blut!

Das Wasser ist Blut... Blut...

(Er ertrinkt.)

Der Doktor tritt auf, der Hauptmann folgt ihm.

HAUPTMANN

Halt!

DOKTOR

(bleibt stehen)

Hören Sie? Dort!

HAUPTMANN

Jesus! Das war ein Ton.

(bleibt ebenfalls stehen)

DOKTOR

(auf den Teich zeigend)

Ja, dort!

HAUPTMANN

Es ist das Wasser im Teich. Das Wasser ruft.

Es ist schon lange Niemand ertrunken.

Kommen Sie, Doktor! Es ist nicht gut zu hören.

(will den Doktor mit sich ziehen)

DOKTOR

(bleibt aber stehen und lauscht)

Das stöhnt als stürbe ein Mensch.

Da ertrinkt jemand!

HAUPTMANN

Unheimlich! Der Mond rot und die Nebel grau.

Hören Sie? jetzt wieder das Ächzen.

DOKTOR

Stiller... jetzt ganz still.

HAUPTMANN

Kommen Sie! Kommen Sie schnell.

(zieht den Doktor mit sich)

Orchester-Uberleitung.

Fünfte Szene

Strasse vor Mariens Tür. Heller Morgen. Sonnenschein.
Kinder spielen und lärmen.
Mariens Knabe auf einem Steckenpferd reitend.

DIE SPIELENDER KINDER

Ringel, Ringel, Rosenkranz,

Ringelreih'n!

Ringel, Ringel, Rosenkranz,

Rin...

Unterbrechen Gesang und Spiel, andere Kinder stürmen herein.

EINS VON IHNEN

Du Käthe!... Die Marie...

ZWEITES KIND

Was is?

ERSTES KIND

Weisst' es nit? Sie sind schon Alle 'naus.

DRITTES KIND

(zu Mariens Knaben)

Du! Dein Mutter ist tot!

MARIENS KNABE

(immer reitend)

Hopp, hopp! Hopp, hopp! Hopp, hopp!

ZWEITES KIND

Wo is sie denn?

ERSTES KIND

Drauss' liegt sie, am Weg, neben dem Teich.

DRITTES

Kommt, anschaun!

(Alle Kinder laufen davon.)

MARIENS KNABE

(reitet)

Hopp, hopp! Hopp, hopp! Hopp, hopp!

(zögert einen Augenblick und reitet dann den anderen Kindern nach)

Leere Bühne.

Vorhang zu.

Einige Schlußtakte des Orchesters.

Ende.

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Locandina Erster Akt Erste Szene Zweite Szene Dritte Szene Vierte Szene Fünfte Szene Zweiter Akt Erste Szene Zweite Szene Dritte Szene Vierte Szene Fünfte Szene Dritter Akt Erste Szene Zweite Szene Dritte Szene Vierte Szene Fünfte Szene